Die Morde in Frankreich erfüllen uns mit Entsetzen und Trauer. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen, Freundinnen und Freunden der Opfer der Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo ebenso wie auf den koscheren Supermarkt in Paris. Wir gedenken insbesondere des Mitbegründers von Attac Frankreich, Bernard Maris, der bei dem Attentat auf Charlie Hebdo den Tod fand. Diese Morde sind durch nichts zu rechtfertigen.
Die Bezeugungen der Solidarität mit den Opfern von Paris rund um den Globus sind eindrucksvoll und ergreifend. Doch nicht alle Stimmen im "Wir sind Charlie"-Chor überzeugen.
Denn Anschläge wie der in Paris, seien sie scheinbar religiös motiviert oder nicht, haben auch ihre Wurzeln in einer zerstörerischen neoliberalen Politik der Ausgrenzung, Ausbeutung und Vernichtung fundamentaler Lebensgrundlagen und sozialer Sicherungssysteme weltweit. Die derzeitige Politik macht Lebensverhältnisse extrem und zerstörerisch und in ihrer Konsequenz auch die Menschen, die mit ihnen leben.
Religiöser Wahrheitsfanatismus schafft Herrschaftsreligionen
[...]
Religion hat immer, in allen kulturellen und sozialen Kontexten zum Kampf um Macht und zur Stabilisierung von Macht beitragen müssen. Das gilt für Tyrannen wie für demokratische Systeme, wo der
Glaube - wenn auch säkularistisch minimiert - zur Wertebildung sowie für den „Ruck durch die Gesellschaft“ in Anspruch genommen wird. [...] Bisher hat es keine Religion geschafft, sich aus dem
Provinzialismus der babylonischen Gefangenschaft des „Staates“ - ob stammesorientiert, lokal, regional oder national - zu lösen: mit Ausnahme des Christentums. Das bedeutet nicht, dass es da
keinerlei atavistische Regression gäbe. Eine der schlimmsten war der Völkermord von Christen an Christen in Ruanda. Die Verbrechen der Weltkriege liegen noch nicht lange zurück. Heute sind es
Firmen aus „christlichen“ Herrschaftsgebieten, die weltweit Waffen zum fortgesetzten Morden verbreiten und damit dickes Geld machen, mit Erlaubnis „christlicher“ Regierungen und Parlamente.
Andererseits wurde einzig im Kontext des Christentums die Kraft aufgebracht, Wesen und Unwesen von Religion selbstkritisch zu betrachten und die Selbstimmunisierung zu mobilisieren. Jesus
Christus war ein gewaltfreier, herrschaftskritischer Religionsstifter. Er war kein Kriegsherr und kein Kriegstreiber wie Mohammed. Der Geburtsfehler des Islam liegt in seiner Gründungsfigur,
seinem „Propheten“. Das Christentum als von der Wurzel her selbstkritische und herrschaftskritische Religion ist - wie seine (Befreiungs-)Theologie beweist - geistig im Jahr 2014 angekommen, der
Islam in breitesten Teilen nicht. Für Letzteres gibt es keine historische Entschuldigung mehr.
Jahrhunderte des Ringens um die Freiheit des Abendlandes und islamistischer Dschihad
[...]
Die Turbulenzen des Dschihad sind vielleicht doch auch ein Signal dafür, dass etwas faul ist im Staate Europa? Bei Massenmord fällt es schwer, sich die Ungereimtheiten einzugestehen, sich selber an die Brust zu klopfen. Doch ist es noch gar nicht so lange her, dass - ausgerechnet von französischem Boden aus - der Essay „Empört Euch!“ des ehemaligen Widerstandskämpfers, Uno-Diplomaten und politischen Aktivisten Stéphane Hessel seinen Lauf als Bestseller durch Europa antrat. Ist das schon vergessen? Seit langem wird über „die Ausgeschlossenen“ der superreichen Nationen, über die Zu-kurz-Gekommenen, diskutiert. Sind all diese Phänomene auf einmal ohne Belang?
Ohne Belang jedenfalls ist es nicht, dass viele der jungen verführten Dschihadisten genau in solchen sozialen Brennpunkten
rekrutiert werden. Versager, die von anderen Versagern, Primitiv-Muslimen, aber ebenso hochgebildeten Muslimen gleichermaßen geführt, angeleitet, in den „Heiligen Krieg“ geschickt und dort
„verpulvert“ werden. Nicht selten haben sie im Gefängnis ihr „Erweckungserlebnis“ und werden dort zu dem gemacht, was sie am Ende sind: Mörder und nichts als Mörder, aber irregeleitet im Wahn,
heilige Märtyrer zu sein. Diejenigen, die nichts waren und nichts galten, werden mit der Waffe in der Hand plötzlich zu Herren über Leben und Tod. Mehr noch: Sie fühlen sich dazu von Allah selber
ermächtigt, berufen, auserwählt, vom Gott über Leben und Tod. Eine archaische religiöse Welt tat sich ihnen auf. Diese aber prallt auf eine verständnislose säkularistisch-laizistische Welt, die
meint, mit so etwas nicht mehr rechnen zu müssen, weil sie selber mit dem Religiösen weitgehend abgeschlossen hat.