Deswegen: Egal ob es sich um örtliche, regionale, nationale oder supranationale Wahlen handelt, sie alle sind ein Relikt aus einer Zeit, in der Wahlen die einzige Möglichkeit waren, dem Volk wenigstens am Wahltag vorgaukeln zu können, es hätte Mitspracherechte oder gar Entscheidungsbefugnisse in dem, was mit ihm und seinen Interessen in Zukunft geschehen (oder nicht geschehen) würde. Mittlerweile wissen wir längst, dass dem nicht so ist. Völlig unabhängig von Partei und gewählten Politikern gilt die Marxsche Erkenntnis:
"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschen-den Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“
Naturgemäß schrieb Marx vor dem Hintergrund seiner Zeit und Verhältnisse, aber seine geradezu genial-zeitlose Einsicht trifft auch und vor allem heute ins Schwarze. Denn egal, um welche Art von herrschender Klasse es sich handelt, es sind immer Machteliten, die durch klüngelwirtschaftliche Strategien und lobbyistische Netzwerke ihren Interessen (und damit ihrer Macht- und Profitgier etc.) Vorrang geben werden. Und sie werden kraft dieser Macht auch immer die notwendigen Vorkeh-rungen treffen, um diese nicht zu verlieren. Insofern ist das herkömmliche Wahlsystem, in welchem die Bürger alle paar Jahre ihre Stimme einer herrschenden Clique (Partei, Lobbyistenbündnisse, Parlamen-te usw.) geben dürfen, längst obsolet, weil völlig sinnlos.
Sehr treffend kleidete dies der amerikanische Sprachwissenschaftler und Philosoph Noam Chomsky in die vielsagende Analyse: "Unter den ideologischen Zwängen der kapitalistischen Demokratie ist es oberstes Gebot, die Bedürfnisse jener zu befriedigen, die in der Position sind, über Investitionen zu entscheiden; wenn deren Forderungen nicht erfüllt werden, wird es keine Produktion, keine Arbeit, keine Sozialleistungen, keine Überlebensgrundlage geben. Notgedrungen stellen alle sich selbst und ihre Interessen zugunsten des vorrangigen Bedürfnisses zurück, den Interessen der Eigentümer und Führungskräfte in der Gesellschaft zu dienen, die darüber hinaus aufgrund ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten ohne weiteres in der Lage sind, das ideologische System (die Medien, Schulen, Universi-täten und so weiter) in ihrem Interesse zu formen, die Rahmenbedingungen des politischen Gescheh-ens, seine Parameter und Grundsatzprogramme zu bestimmen und bei Bedarf über die Mittel staat-licher Gewalt zu verfügen, um jeglichen Angriff auf die etablierten Mächte zu unterbinden."
In Zeiten der digitalen Verarbeitung und Verwaltung größter Datenmengen brauchen wir eine kommu-nitaristische Demokratie, welche ohnehin der griechischen Vorstellung von Demokratie am nächsten kommt und unmittelbar selbstbestimmt ist. Kleine und kleinste logische Einheiten eines Staatsgebil-des/-volkes müssen ihre unmittelbaren Lebensgeschicke selbst bestimmen dürfen. Vor allem, wenn es sich um kommunitaristisches Gut (Gemeingut) handelt, also alles, was der unmittelbaren Lebensvor-sorge dient (an den jeweilige Entwicklungsstand der Zivilisation angepasste Bedürfnisse von Nahrung, Kleidung, Wohnung, med. Versorgung, Altersvor- und -fürsorge etc.). Diese Gemeingüter müssen immer unter der Obhut von Non-profit-Organisationen bleiben, die keinen Gewinn anstreben, sondern alleine dem Gemeinwesen verpflichtet sind. Auf ein ganz wichtiges Gemeingut möchte ich gerade im Zusammenhang mit Fake News und den modernen Medien gesondert hinweisen: das Gemeingut Recht auf Information, d.h. vollumfänglich gesicherte Informationstransparenz. Denn auch und gerade das Wahlsystem ist Teil eines durch und durch korrupten Gesamtsystems zu dem auch die sog. Mainstream-Medien gehören.
Dies bedeutet: Die Bürger müssen in allen mittelbaren und unmittelbaren Lebensfragen vollumfänglich informiert und im Fall von Entscheidung diese den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt werden, und zwar von der Orts- oder Kreisebene über die Region bis hin zu supranationalen Strukturen (z.B. EU). Nur die unterschiedlichen Interessen der Bürger einer Region, eines Landes oder einer größeren territorialen Einheit können gleichzeitig Checks AND Balances (ein System wechselseitiger Kontrolle) sein, sich mithin selber in Bezug auf die jeweils kleinste Wahleinheit in Fragen von Interessenskonflikten kontrollieren und koordinieren.
Dieser Zustand kann aber nicht durch ein Wahlsystem erreicht werden (egal, wen man wählt), welches einen solchen Zustand bzw. ein solch freies bürgerliches Selbstbestimmungssystem gar nicht vorsieht, sondern - direkt oder indirekt - den Status quo der Herrschenden nur noch fester zementiert. Denn Wahlen fungieren hierbei nur zur Absicherung von Herrschaft derjenigen Klasse, die am meisten von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur profitiert. Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden.
Wahlen bewirken dann das, was der Alkohol beim Alkoholiker bewirkt: ein gutes Gefühl, das von der eigentlichen Misere der Abhängigkeit ablenkt. Insofern haben auch hier Marx und Engels recht, wenn sie zum Schluss kommen: "Die Interessen der herrschenden Klasse werden als die vorgeblich gemein-samen aller Mitglieder der Gesellschaft dargestellt. Marx und Engels bezeichnen Gedanken, die den Interessen der herrschenden Klasse dienen und als allein gültig dargestellt werden, als Ideologie. Ideologie kann durch Kritik aufgedeckt, aber nur durch revolutionäre Praxis („umwälzende Praxis“, wie Marx in der dritten These zu Feuerbach schrieb) beseitigt werden, indem die materiellen Verhältnisse geändert werden." (MEW, Band 3)
Diese uralte Erkenntnis, nämlich dass ein systemisches Übel (wie es das politische System darstellt) nicht reformfähig ist, hat auch der indische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, Professor Amartya Sen, in seinem Buch Collective Choice and Social Welfare thematisiert. Er kam dabei zu dem Schluss, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: "Entweder man hat die Zeit bis zum St. Nimmerleins-Tag und lässt die systemischen Übel den evolutiven Weg aller Veränderung gehen (Evolution) oder man hat diese Zeit nicht – dann gibt es nur die revolutionäre Veränderung von den Wurzeln her (Revolution), weil alleine sie kraft ihres Zorns nicht einknickt vor Hindernissen und Schwierigkeiten, vor welchen Reformen immer abbrechen."
Dabei dürfte das revolutionäre Szenario immer wahrscheinlicher werden, nicht zuletzt, weil auch die Abgehobenheit und Vetternwirtschaftlichkeit der Politik immer mehr zunimmt. Das Fass der öffent-lichen Meinung ist zu einem Pulverfass geworden. Darüber kann und darf auch die relative hohe deutsche Wahlbeteiligung bei der EU-Parlamentswahl nicht hinwegtäuschen. Die Menschen in Europa sind es satt, sich an der Nase herumführen zu lassen, während gleichzeitig die Politik auf dem Pulver-fass unvereinbarer Gegebenheiten (Arbeits- und Klimaproblematik) sitzt und nicht weiß, wie sie diese gegensätzlichen Notwendigkeiten unter einen Hut bringen kann. Zusammen mit der Migrationsprob-lematik ist das ein Cocktail, der die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände und des "Sturms auf die Parlamente" immer höher kochen lässt. Sollte die Ernte so ausfallen, wie die Aussaat der letzten vier Jahrzehnte es prophezeit, dürften bald harte Zeiten anbrechen für alle - ganz besonders aber für die herrschende Klasse ...
Es gibt deutliche Analogien zwischen der heutigen Situation auf EU-Ebene und der Situation auf der damaligen Ebene von Reichsstädten vor der Reformation (siehe hier). Dies wird im Rückblick besonders deutlich: "In der Verfassungswirklichkeit der Reichsstadt war der Kompromiß zwischen patrizischer Oberschicht und zünftischer Mitbestimmung, der 1368 gefunden worden war, bereits zu einem System umgeformt worden, in dem sich 'Rat' und 'Gemeinde' gegenüberstanden. Obwohl die prinzipielle Gleichheit des Bürgerrechts - das längst nicht alle Einwohner besaßen - die Teilnahme am politischen Entscheidungsprozeß über die 17 Zünfte gewährleistete, bestimmte doch eine Elite in den Führungs-ämtern und engeren Ratsgremien, vor allem im Geheimen Rat der 'Dreizehner', die Grundlinien der Politik.
Eine Überhöhung erfuhr diese Konzentration politischer Macht aber dadurch, daß diese Ratsoligarchie sich spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts als von Gott und dem Kaiser legitimierte 'Obrigkeit' verstand und sich mit dem Ausbau der Exekutive eigenständige Herrschaftsinstrumente schuf, um die gesamte Bürgerschaft zu kontrollieren. Die Vorstellung, "damit die Aufrechterhaltung der Rechtsord-nung, der öffentlichen Sicherheit, des Friedens und des materiellen Wohlergehens der Einwohner und Bürger [zu] garantieren" - den 'gemeinen Nutzen' zu gewährleisten, wie man in den Worten der Zeit das Ideal der Res publica übersetzte -, verwies die übrige Bürgerschaft auf die Rolle von 'Untertanen' (J. Rogge). Trotzdem hielt sich in den Zünften der Gedanke einer genossenschaftlich strukturierten 'Gemeinde' als konstitutiver Basis der Stadt - und er konnte als Oppositionshaltung immer wieder in Konfliktsituationen virulent werden, nicht zuletzt auch in der Reformation."
Wie deutlich ersichtlich, gehen auch hier den daraus resultierenden Auseinandersetzungen zunehmen-des Unrecht durch Usurpation und Reichtumsanhäufung der herrschenden Klasse voraus. Und damals wie heute erkannte diese Klasse nicht die Zeichen der Zeit, die auf Sturm standen bzw. stehen. Der Mord an dem CDU-Politiker Lübcke hat nun die herrschende Klasse mit einem Schlag aufgescheucht, weil sie merkte, dass es nun ihr selber an den Kragen gehen könnte. Solange einfache Bürger zum Ziel von Hetzjagd und Mord wurden, wurde darüber mehr oder weniger ausführlich in den Gazetten berichtet und danach beruhigte sich der Nachrichtendrang relativ schnell. Aber jetzt, wo die politische Klasse selber betroffen ist, jetzt sollen plötzlich schärfere Gesetze etc. das Problem lösen und Politiker aller Parteien machen ihrer Sorge um das Wohl der Republik Luft. Das eigentliche Problem aber wird weiter in alter Manier ausgesessen, einfach, weil es der herrschenden Klasse und ihren medialen Handlangern nicht ins Konzept passt.
Diese herrschende Klasse wird oft subsumiert unter dem Begriff "Staat" und in der Tat ging die Entstehung des Staats und daraus folgend des Staatswesens einher mit dem Niedergang der mensch-lichen Freiheit und Heterogenität. In "Die Mühlen der Zivilisation" bürstet der Sozial- und Politikwis-senschaftler James C. Scott das Standardnarrativ der Menschheitsgeschichte gegen den Strich und findet dabei u.a. heraus, dass der Staat als Ausbeutungsmechanismus entstand, für den die Demokra-tie ein fremdes Element ist. Historisch läuft sie dem Staat hinterher. Sie ist gegen ihn gerichtet, weshalb Abensour von einer 'Demokratie gegen den Staat' spricht. Der Kampf um Demokratie ist demnach der anhaltende Versuch, die Macht des Staates einzudämmen, um Platz für das Andere des Staates zu schaffen, also die Räume für das offen zu halten, was der Staat zerstört und worauf die Menschheit dennoch so dringend angewiesen ist: Vielfalt der Habitate und Arten, Vielfalt der Subsistenzweisen, Vielfalt der menschlichen Lebens- und Sozialformen. Darin liegt die anthropologische Bedeutung der Demokratie. Sie leichtfertig zu verspielen wäre fatal, ist sie doch der Garant für das Fortbestehen jeglicher menschlicher Sozialität.